Erdwissenschaften



Was sind Erdwissenschaften?

Unsere Erde ist ein offenes System von Materie und Energie, welches durch die Gesamtheit der in und auf dem Planeten ablaufenden Prozesse geformt und ständig verändert wird. Dieser Erde __ ihrer Geschichte, ihrem heutigen Zustand und ihrer Entwicklung __ gilt das Interesse. Mit Methoden aus allen Bereichen der Naturwissenschaft wird versucht, das komplexe System einer Vielzahl sich gegenseitig beeinflussender Vorgänge zu verstehen. ImUnterschied zu anderen Naturwissenschaften spielt der Faktor Zeit in den Erdwissenschaften eine zentrale Rolle. Für die oft schwierig zu erkennenden Langzeitprozesse dient die Erde als Laboratorium und als Archiv, welches langzeitliche Veränderungen der Vergangenheit in den Gesteinen oder Eisschichten registriert hat. Die Untersuchung dieser Archive trägt deshalb auch den Schlüssel zum Verständnis von zukünftigen Entwicklungen in sich. Die ursprüngliche Entstehung und anschliessende Entwicklung des Lebens auf der Erde seit über drei Milliarden Jahren ist eines der tief reichenden Themen der erdwissenschaftlichen Forschung, in der heute Paläontologen, Geochemiker  und Molekularbiologen intensiv zusammenarbeiten.

Die Erforschung von Prozessen, welche über Jahrmillionen hinweg den steten Wandel unserer Kontinente und Ozeane, unserer Bio- und Atmosphäre verursacht haben, verlangt einen Ansatz, der alle Disziplinen der Naturwissenschaften sowie ganz unterschiedliche erdwissenschaftliche Untersuchungsmethoden auf verschiedensten Skalen verbindet, von der globalen Beobachtung durch Satelliten bis zur  Materialuntersuchung auf der atomaren Skala.

Die Entdeckung der Plattentektonik durch die geophysikalische Kartierung der Ozeanböden brachte eine tief greifende Veränderung des erdwissenschaftlichen Weltbildes mit sich. Auch heute erbringt die Entwicklung neuer Technologien der globalen Fernerkundung und der mikroskopischen Materialuntersuchung grundlegend neue Informationen über die dynamischen Prozesse und den heutigen Zustand der Erde. Geophysikalische und geochemische Untersuchungsmethoden erlauben die Erforschung des nicht direkt zugänglichen Erdinnern, aber auch von anderen Himmelskörpern in unserem Sonnensystem. Eine wichtige Rolle für das Verständnis grossräumiger Prozesse spielen Laborexperimente, welche auf kleinstem Raum Drücke und Temperaturen simulieren, wie sie im Erdinneren herrschen. Mikrochemische Analysemethoden belegen das genaue Alter und die Bildungsbedingungen von Gesteinen und Mineralien.

Sorgfältige Feldbeobachtung in allen Gebieten der Erde, von der Probennahme im Hochgebirge bis in grosse Tiefen der Meere mit Tauchbooten, bildet nach wie vor eine wichtige Basis für neue erdwissenschaftliche Erkenntnisse. Systematische Messungen in der Natur sind Startpunkt für die meisten praktischen Problemlösungen, von der geologischen Gefahrenbeurteilung beim Tunnelbau bis zur seismologischen Auslotung eines Ölvorkommens. Allgemein anerkannte Erkenntnisse in den Erdwissenschaften beruhen meist auf einer Synthese aus quantitativen Feldbefunden, experimentellen Untersuchungs-Ergebnissen im Labor und der Modellierung von Prozessen gemäss physikalischen oder chemischen Gesetzmässigkeiten. Computersimulationen mit innovativen numerischen Methoden werden zunehmend wichtiger, um unterschiedliche Daten und Wechselwirkungen quantitativ zu integrieren.

Die Erdwissenschaften befassen sich mit aktuellen und praktischen Aspekten unserer Umwelt im weitesten Sinn. Mit dem Wissen um die globalen Prozesse, welche die interne Dynamik unseres Planeten steuern, lassen sich aus der Diagnose der Vergangenheit Prognosen für die zukünftige Entwicklung aufstellen. Viele dieser Prozesse laufen für uns Menschen ausserordentlich langsam ab: die Entwicklung neuer Tier- und Pflanzengesellschaften beansprucht Hunderttausende bis Millionen von Jahren. Diese extrem langsamen Prozesse werden immer wieder von katastrophalen Ereignissen wie Vulkanausbrüchen, Erdbeben, Überflutungen, Bergstürzen und Meteoriteneinschlägen überprägt, welche lokal oder regional umwälzende Veränderungen zur Folge haben. Naturgefahren sind ein zentrales  Thema der angewandten Erdwissenschaften: die Beurteilung von Rutschungen und Bergstürzen, die Bestimmung von regionalen und lokalen Erdbebenrisiken, und die Vorhersage von Vulkanausbrüchen durch geochemische und geophysikalische Überwachung. Die Erdwissenschafter entwickeln geophysikalische und geologische Untersuchungsmethoden für die Nutzung geothermischer Energie und für die weltweite Exploration von mineralischen Rohstoffen. Neben den fossilen Energieträgern (Öl, Gas, Uran) sind Bau- und Werkstoffe (Zement, Ton)  wie auch technisch schwer ersetzbare und nicht in genügendem Umfang wieder verwertbare Metalle zunehmend schwieriger zu finden und umweltgerecht zu nutzen.

Die Nutzung von Grundwasser ist ein zentrales Anwendungsgebiet der Erdwissenschaften, von der Wassersuche in ariden Gebieten bis zur die Beurteilung und Sanierung von Grundwasser verschmutzenden Abfalldeponien. Geologische Untersuchungen sind nötig zur Identifizierung neuer Deponiestandorte, mit dem Ziel einer sicheren Beseitigung von Industrieabfällen,  einschliesslich der langfristigen Lagerung von radioaktiven Abfällen.

Geotechnische Untersuchungen für Hochbauten, für Untertagebauwerke wie Tunnels sowie für den  Bau und die Sicherung von Wasserkraftanlagen verwenden eine breite Palette erdwissenschaftlicher Methoden, durch Beobachtungen vor Ort und Messungen im Labor. Auch Umweltverträglichkeitsprüfungen fallen zum Teil in das Arbeitsgebiet der Erdwissenschaften, ebenso wie die Erforschung und Synthese neuer Materialien, basierend auf modernsten kristallographisch-mineralogischen Untersuchungstechniken. Luftverschmutzung führt zu Schäden an historischen Bauwerken, die mit mineralogischen Methoden untersucht und saniert werden. 

Während Wetter, Jahreszeiten und historische Klimaschwankungen in einem Zeitraum liegen, den der Mensch wahrnehmen kann, erfüllt die Erde ihre Archivfunktion durch die Dokumentation von Warm- und Kaltzeiten im Bereich von Hunderten bis Hunderttausenden von Jahren. Die Eiszeit- und die quartärgeologische Forschung lehrt uns, dass das globale Gleichgewicht in kurzer Zeit von einem zum andern Extrem wechseln kann. Hieraus folgt die Erkenntnis, dass die vom Menschen ausgehenden Veränderungen in ihrer Gesamtheit selbst innert historisch kurzer Zeit bedrohliche Wirkungen ausüben könnten. Diese Veränderungen, Naturgefahren und Verschmutzungen wissenschaftlich zu erklären und praktischen Lösungen zuzuführen, ist eine zentrale Aufgabe der Erd- und insbesondere der Klimawissenschaften. Eng verknüpft mit Klima, Atmosphäre und dem Wärmehaushalt an der Erdoberfläche ist der Forschungsbereich der Hydrologie, welcher die Vorgänge im Wasserkreislauf und seine Beziehung zu Vegetation, Boden und dem Gesteinsuntergrund untersucht.